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Kurzgeschichte: Keine Helden, nur Überlebende

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Contentwarnung: Die Geschichte spielt in der Welt des ketzerjagenden Ketzerjägers und der besommersprossten Heilerin. Gewalt gegen Frauen ist in dieser Welt normalisiert, sogenannte Läuterungsmale werden stolz mit Prothesen etc. zur Schau gestellt.


Die Ladenklingel bimmelte fröhlich, als Galatea die holzgerahmte Glastür aufstieß.

„Oh Liebes, da bist du ja endlich!“ Mit beherzten Tippelschritten kam ihre Freundin auf sie zu. Küsschen links, Küsschen rechts.

„Das sieht … unbequem aus.“ Eine vorwitzige rote Locke hatte sich aus Gelateas gesteckter Frisur gelöst und baumelte empört vor ihren Augen hin und her, als sie den engen Rock beäugte, der offensichtlich jüngst aus der Hauptstadt eingetroffen war. „Kannst du darin überhaupt laufen?“

„Ach, du weißt ja. Was tut man nicht alles.“ Die junge Frau lächelte. Das tat sie so geübt, dass sich sogar kleine Fältchen um die Meerblauen Augen bildeten. Allerdings sickerte dieses Lächeln nie ganz dort hinein.

Mit einem kaum merklichen Ruck ihres Kopfes vertrieb Galatea das Unbehagen und hakte sich bei ihrer Freundin ein. Sie wollte zurückzucken, als ihre Fingerspitzen das Metall unter dem fliederfarbenen Seidentaft des Kleides ertasteten, hielt sich aber gerade noch davon ab. Die Prothese war noch recht neu, und sie hatte Nestia seit der Anpassung erst ein Mal gesehen.

Ein mehrfacher Splitterbruch war es gewesen. Deshalb hatte Akis, ihr Dual, entschieden, dass es sinnvoller wäre, den Arm zu amputieren.

Der Goldschmied hatte die Prothese mit Gold überzogen und Diamanten und Lapislazuli eingesetzt. Gerahmt in feinen Ornamenten war darauf die Geschichte der Heiligen abgebildet. Das war nicht einfach ein Läuterungsmal. Das war ein Kunstwerk! Und es war wunderschön.

Bestimmt würde Akis nicht müde werden, dieses Kunstwerkt auf jeder erdenklichen Abendveranstaltung zur Schau zu stellen. Immerhin attestierte ihm die Prothese Pflichtbewusstsein und Lichtergebenheit. Da war das kleine Vermögen gut investierte.

Vielleicht würde er in seiner Anwaltskanzlei bald zum Partner gemacht? Bei so viel Ambition wurde Galatea fast ein bisschen neidisch.

„Komm, ich zeig dir die Kollektion“, flötete Nestia und zog sie mit sich. „Du wirst schreien vor Begeisterung!“

Sie tauchten ein in wuselnde Geschwätzigkeit, pudrige Parfums und grelle Farben.

Wie jedes Jahr, wenn Minfrou van Houten die neuesten Trends aus Seelvaart vorstellte.

„Ah! Nestia, meine Liebe!“ Küsschen links, Küsschen rechts. „Und Galatea.“ Wieder Küsschen links und Küsschen rechts. „Wie geht es euch? Ach Nestia, du siehst einfach zauberhaft aus!“

Kichernd nahm Nestia das Kompliment an. Die Duale, von der es kam, war Eos Verkouten. Ihr Gefährte war Vorsitzender des regionalen Presseverbandes und ihre Familie gehörte zu den drei einflussreichsten hier in Andilmaar.

Ihre dicken, dunkelgrauen Locken hatte sie so hochgesteckt, dass sie linksseitig das zugeschwollene Auge halb verdeckten. Trotzdem hatte sie reichlich Perlglanz auf die Schwellung getupft, um es zu betonen. Den inzwischen nur noch gelblichen Fleck auf ihrer rechten Wange hatte sie großzügig mit pinkem Puder übermalt, damit er frisch aussah und nicht wie fast verheilt. Ihr herzliches Lächeln gab den Blick auf zwei Goldzähne frei, die ihre oberen Schneidezähne ersetzten.

„Ihr müsst euch die neuen Stoffe ansehen. Die neuen Blumenprints sind ein Traum. Ein Traum! Ich sag es euch. Und habt ihr schon gesehen, wie tief sie jetzt den Rücken ausstellen? Also ich habe mich ja gefreut. Ich mochte meine feinen Narben von der Weitenrute immer ganz besonders. Sie lassen mich fast zart wirken. Ich denke, ich werde sie diesen Herbst wieder mehr zeigen.“

Freundschaftlich zwängte Eos sich zwischen die beiden Jüngeren und schob sie mütterlich tiefer in das Meer aus Gekicher und Rascheln und Tratschen hinein.

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