Wenn eine Frau sich, beispielsweise in einem Business Meeting, aufregt, wirkt sie bossy, bitchy und inkompetent.
Erhebt ein Mann die Stimme, im selben Kontext, aus dem gleichen Grund, wird er als eloquent, führungsstark, engagiert wahrgenommen. So weit, so Double Standard.
Aber warum ist das so?
Kurz – und das wird dich jetzt nicht wundern: Weil unsere Gesellschaft Männer und Frauen mit zweierlei Maß misst. Aber dahinter steckt mehr als omnipräsente Doppelmoral, von der die einen bequem profitieren, während die anderen darunter leiden.
In der Belletristik ist Female Rage seit einiger Zeit ein Trope und entwickelt sich inzwischen sogar zu einem eigenständigen Genre. Bestimmt weißt du das, deshalb liest du das hier vermutlich gerade.
Aber wusstest du auch, dass es „Male Rage“ weder als Trope noch als Genre gibt oder je gab?
Dass Männer wütend werden und diese Wut ein Motor ist, ein Antrieb, der Point of Change und manchmal auch der Point of no return, stand niemals zur Debatte. Und so zogen seit jeher wütende Rächer über Buchseiten und Kinoleinwände und haben nach eigenen Maßstäben für Gerechtigkeit gesorgt (wobei diese „Gerechtigkeit“ manchmal auch einfach nur eine Trauerbewältigungsstrategie war, wie bei John Wick. Aber zum Glück sind wir Frauen ja viel zu emotional).
Psychologisch betrachtet ist Wut genau das: Ein Motor. Antreiber. Der Moment, in dem man(n) merkt „Whoa, also das geht mir jetzt aber zu weit!“ – und dann verändert sich etwas. Oder genauer gesagt: Die wütende Person verändert etwas – im Außen und auch im Inneren.
Wenn der Ausdruck von Wut in Form von einem Ausbruch, einer erhobenen Stimme oder einfach nur Widerspruch ohne Konsequenzen bleibt, wenn sich nichts verändert, wenn die Wut ungehört verpufft – dann war sie einfach nur ein Störfaktor. Eine Unterbrechung. Unnötig. Nervig, weil eh nicht ernst zu nehmen.
Die Person, deren Wut nichts verändert hat, hat einfach nur gestört. Wollte sich aufspielen, sich wichtigmachen, unbedingt ihren unqualifizierten Senf dazu geben. Sie wird belächelt. Belittled. Mit Kopfschütteln, Unverständnis oder einer hochgezogenen Augenbraue bedacht.
Kommt dir das bekannt vor?
Weibliche Wut bleibt ohne Folgen
Es wundert mich ehrlich gesagt nicht (mehr), dass weibliche Wut als nervig wahrgenommen wird. Weil sie – gesellschaftlich betrachtet – ohne Konsequenzen bleibt. Nicht nur in der Realität, sondern auch in fiktiven Welten. Selbst dann, wenn die weiblichen Hauptfiguren von Frauen geschrieben werden.
Ich habe mehr als ein Buch abgebrochen, weil mich die Inkonsistenz, Inkonhärenz und Inkonsequenz der wütenden Protagonistin so genervt haben. Was übrigens einer der Gründe war, weshalb ich angefangen habe, mich analytisch mit dem Thema Female Rage in Fiktion auseinander zu setzen. Ich will nämlich, dass meine Protagonistinnen in ihrer Female Rage Era gefeiert werden. Oder zumindest ernst genommen.
Ich bin darauf gestoßen, dass weibliche Hauptfiguren mit ihrer Wut nerven, wenn wir sie so abbilden, wie wir sie auch im echten Leben erleben. Direkt gefolgt von der Frage: Warum ist das so? Und warum können wir weibliche Wut in Romanen nicht einfach so darstellen, wie sie wirklich ist? Ich mein, wenn wir sie schon normalisieren wollen und so.
Die Antwort lautet: Damit wir uns mit der Idee anfreunden, Raum einzunehmen (ja, lass das ruhig Sacken).
Es ist nicht nur die Wut von Frauen, die nervt, wenn sie verpufft. Gleiches gilt auch für die Wut von Männern. Das ist, wie weiter oben geschrieben, psychologisch erklärbar. Wut, die ohne Konsequenzen bleibt, ist nicht mehr als Jammern oder Meckern oder Rumgezicke.
Aber jetzt wird’s spannend: Nehmen wir ruhig unser Eingangsbeispiel vom Businessmeeting. Der wütende Mann poltert, argumentiert lautstark und wir können uns sehr gut vorstellen, wie er seinen Vorschlag durchdrückt. Vermutlich zu seinem Vorteil. Und die Frau?
Ja, genau. Die Wut der Frau bleibt ohne Folgen.
Warum?
So gern ich auch sage „weil wir noch nicht wütend genug sind“ reicht das als Erklärung lange nicht aus..
Die Wurzel dieses Übels reicht mal wieder Jahrtausende zurück und liegt, so meine Hypothese, zumindest teilweise in einem tradierten Narrativ begründet, das noch heute den Männern den Weg an die Macht ebnet.
Dieses Narrativ hat unsere Gesellschaft so allumfassend durchdrungen und ist so selbstverständlich, dass ich und Gemini und ChatGPT bei der Recherche nicht einen isolierten Text (sei es ein Essay, Bachelor- oder Master- oder Doktorarbeit, geschweige denn ein ganzes Buch) gefunden habe. Es wird in Texten über Sozialisierung und Pädagogik beiläufig erwähnt oder ist ein Aufzählungspunkt auf einem Flyer zur Geschlechterbias: Die Infantilisierung der Frau.
Die Infantilisierung der Frau:
„Die Herrschaft des Mannes [über die Frau] ist wie die des älteren über den jüngeren“
– Aristoteles
„Die Frau steht von Natur aus unter der Leitung des Mannes, denn in der Vernunftkraft ist der Mann stärker.“
– Thomas von Aquin
„Mädchen und Frauen sind von Natur schwach und leichtsinnig.“
– Martin Luther
„Die Frau ist für den Mann gemacht […] Sie soll sich fügen wie ein Kind.“
– Jean-Jaques Rousseau
„Ein weibliches Wesen ist ein großes Kind sein Leben lang.“
– Immanuel Kant
„Frauen sind von Natur bestimmt, gehorsam zu sein; sie bleiben ihr Leben lang große Kinder.“
– Arthur Schopenhauer
„Das weibliche Über-Ich ist niemals so unnachsichtig, so unpersönlich, so unabhängig von der Gefühlsbetonung wie das männliche.“
– Sigmund Freud
Im juristischen Sprachgebrauch galt die Frau bis ins 20. Jahrhundert hinein in vielen Bereichen als „nach Vormundschaft bedürftig“ (BGB um 1900), vergleichbar mit Kindern. Und erst 1972 wurde ein Erlass herausgegeben, dass im amtlichen Schriftverkehr die Anrede „Fräulein“ zu unterlassen sei. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden unverheiratete, erwachsene Frauen nämlich meist mit der Verniedlichungsform von Frau – Fräulein – angesprochen. Ab 1955 gestand man Frauen immerhin zu, dass sie auf Wunsch mit „Frau“ angesprochen werden konnten.
Das Narrativ (oder sollte ich schreiben „der Mythos“?), dass Frauen der männlichen Führung bedürfen, hält sich bis heute hartnäckig – nicht zuletzt durch die Flut an selbsternannten Pick-up-Coaches oder Alpha-Männchen, die diesen Unsinn in den Sozialen Medien fleißigst reproduzieren. Und nicht nur die: Die sogenannten Tradwifes springen auf den Zug genauso auf wie Christfluencer, Rechtskonservative, Faschisten und rechtskonservative Faschisten. Ungefiltert wird in den Äther gepustet, dass Frauen sich unterordnen müssten, weil es in ihrer weiblichen Energie läge, den fürsorglichen Part zu übernehmen, dass sie keine eigenständigen Entscheidungen treffen könnten – oder zumindest keine, die nicht mit der des Partners übereinstimmt.
Die Wut von Frauen wird nicht ernst genommen, weil man uns Frauen nicht ernst nimmt. Weil man uns zu Kindern macht bzw. mit Kindern gleichstellt. Mental unmündig, unreif, geistig nicht voll entwickelt und vor allem niemals dem Manne ebenbürtig.
Die Gesellschaft, das Patriarchat, ist noch immer vom dem festen Glauben, der Annahme, dem Vorsatz durchdrungen, Frauen seien geistig zu nicht mehr Leistung in der Lage, als ein Kleinkind. Die unzähligen Frauen, denen in der Geschichte ihre Leistung nachweislich abgesprochen wurde, von denen man heute weiß, dass sie unsere Welt maßgeblich mitverändert haben? Die werden selbstverständlich ignoriert. Beispielhaft genannt seien hier Ada Lovelace als erste Person, die einen Computeralgorithmus schrieb, Grace Hopper, die in der Informatik den Begriff Bug prägte, Dorothy Vaughan, Katherine Johnson und Mary Jackson, denen eine tragende Rolle in der NASA (Orbitalmechanik, Spaceflight, Programmierung) zukam, und viele, viele andere.
Das alles passiert nicht aus Versehen. Und es ist auch nicht nur Bequemlichkeit. Wir können – und auch das wieder meine Hypothese – zumindest zu einem gewissen Grad bewusste Entscheidung der patriarchalen Profiteure unterstellen. Die Infantilisierung der Frau ermöglicht „die weibliche Exteriorität“ (10) von Macht. Frauen werden seit Jahrtausenden konsequent und kontinuierlich von der (politischen) Macht ausgeschlossen. Dem Narrativ des kindlichen Geistes kommen hierbei die Narrative der bösartigen Frau, die sich etwas aneignet, das ihr nicht zusteht, und der unfähigen Frau, nach deren (unrechtmäßiger) Machtergreifung das Chaos folgt, zu Hilfe.
Wenn weibliche Wut – oder die Frau als Individuum oder Kollektiv – ernst genommen würde, würde man ihr (der Wut) die Macht geben, etwas zu verändern. Das wiederum würde die Macht der Männer über die Frau und den weiblichen Körper und den Raum, den die Frau mit diesem Körper einnimmt, beschneiden. Die Infantilisierung der Frau und ihrer Wut dient damit der Aufrechterhaltung der (vermeintlichen) männlichen Superiorität.
Gut für die Männer, schlecht für uns: Nicht nur die Männer haben unsere Rolle inzwischen verinnerlicht, sondern wir auch. Konditionierung, Erziehung, Sozialisierung haben dafür gesorgt, dass wir (Frauen) im Gegensatz zu Jungs keine Konfliktkompetenz gelernt haben (11). Stattdessen haben wir gelernt, klein zu sein. Still zu sein. Nicht aufzufallen. Wenn wir schon unsere Meinung äußern, dann bitte warm, weich und mit Zuckerglasur („sugarcoatin“). Auf keinen Fall dürfen wir Raum einnehmen.
Dass unsere Wut nicht wert ist, gehört zu werden, ist kein Naturgesetz. Das war ein Lernprozess.
Das Gut: Wir können den Mist auch wieder entlernen.
Female Rage ist – und war schon immer – kraftvoll. Sie ist machtvoll. Female Rage ist die weibliche Macht, ein System zu verändern. Sie hat die Französische Revolution initiiert, das Frauenwahlrecht auf den Weg gebracht, ebenso wie das Recht auf ein eigenes Konto, sie hat dafür gesorgt, dass in Deutschland Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand wurde (1998) und hat als Folge von MeToo in immer mehr europäischen Ländern dafür gesorgt, dass „Nur Ja heißt Ja“ gesetzlich verankert wurde.
Und ja, man könnte durchaus unterstellen, dass Männer, bewusst oder unbewusst, gezielt oder aus profitabler Bequemlichkeit, die Infantilisierung von Frauen noch immer nutzen, damit wir selbst uns dieser Macht, dieser Naturgewalt nicht bewusst werden.
Die Unterdrückung der Frauen durch -isierung
Genauso, wie sie jede andere Form von -isierung dazu nutzen, uns zu unterdrücken, indem sie unsere Wut, unser kleines und großes Aufbegehren, ungehört und ohne Folgen verpuffen zu lassen. Und ich lasse an dieser Stelle einfach mal die Frage im Raum stehen, ob Gewalt gegen Frauen instrumentalisiert wird, um uns laufend die eigene Machtlosigkeit vor Augen zu führen.
- Sexualisierung: Indem sie uns zu Dingen machen, die allein der Befriedigung ihrer Lust dienen, entmenschlichen sie uns und sprechen uns Bedürfnisse, Grenzen und Wut ab.
- Objektifizierung: Indem sie uns wie Gegenstände betrachten (und behandeln), die keine Bedürfnisse haben und in Besitz gehören, entmenschlichen sie uns und sprechen sie uns Bedürfnisse, Grenzen und Wut ab.
- Maternalisierung*: Indem sie uns zur immer fürsorglichen, immer geduldigen, immer verzeihenden Caregiverin stilisieren, deren einziger Lebensinhalt es ist, Mutter zu sein, sprechen sie uns Bedürfnisse, Grenzen und Wut ab.
- Passivisierung: Indem sie uns als passive, sexuell empfangende Wesen Framen und die männliche Dominanz im Schlafzimmer (oder auf dem Sofa, dem Küchentisch, you name it) gleichzeitig normalisieren, berauben sie uns des Narrativs der sexuellen Selbstbestimmung und auch damit sprechen sie uns Bedürfnisse, Grenzen und Wut ab.
- Dämonisierung: Indem sie uns als von Natur aus boshaft, hinterhältig, geldgierig, niederträchtig framen (leider kein Scherz, was die Redpiller alles so verbreiten ist einfach nur anders wild), entmenschlichen sie uns und sprechen und Bedürfnisse, Grenzen und Wut ab.
- Adultifizierung** – und jetzt wird’s eklig: Indem Männer, alte, weiße, nicht weiße, Familienväter, Ehemänner, Partner, Großväter, pubertierende Mädchen sexualisieren und das dann auch noch öffentlich, mit Klarnamen und Profilbild kommentieren, unterfüttern sie meine Hypothese, dass es bei der Infantilisierung von Frauen und der Infantilisierung weiblicher Wut allein um die Ausübung von Macht geht. Denn es ist das offensichtliche Machtgefälle, das Gefühl von Überlegenheit, die Freude daran, dass das Gegenüber körperlich und geistig unterlegen ist, die 13- und 14-jährige KINDER für all diese Männer überhaupt erst attraktiv macht. Wenn du nicht glaubst oder dir nicht vorstellen kannst, dass Männer genau das tun, such in den Sozialen Medien mal nach dem Begriff „Hobbyhorsing“ und schau dir an, wer sich so in den Kommentaren tummelt.
Was hat das alles mit Female Rage als Genre und Female Rage in Romanen zu tun?
Female Rage ist mehr als eine Emotion. Sie ist mächtig. Sie bewirkt Veränderung – aber erst, wenn wir anfangen, auch Raum einzunehmen.
Vielleicht kennst du das aus eigener Erfahrung, oder du hast schon davon gehört: Je öfter wir mit etwas konfrontiert werden, dass uns zunächst vielleicht schockiert (oder anekelt, abstößt etc.), umso weniger schockierend wird es mit jeder Wiederholung. Das ist der sogenannte Mere Exposure Effekt (3). Wir sprechen dabei auch von Normalisierung. Je öfter wir etwas tun, etwas sagen oder auch nur denken, umso normaler wird es für uns – und natürlich gilt das nicht nur für negative Erfahrungen, auch wenn der Effekt dabei bestimmt besonders eindrucksvoll und wirksam ist.
Für unsere Female Rage bedeutet das: Je häufiger wir mit der Idee in Berührung kommen, dass wir Raum einnehmen dürfen, dass wir laut und unbequem sein dürfen, dass unsere Wut sich nicht im luftleeren Raum auflöst sondern etwas bewirkt, umso verlockender wird der Gedanke, diesen Raum auch wirklich einzunehmen. Weil es irgendwann eben nicht mehr einfach nur eine krude, neuartige, abstrakte oder absurde Idee ist. Irgendwann ist dieser Gedanke für uns – zumindest in der Theorie – normal geworden. Selbstverständlich. Und wir beginnen zu hinterfragen, wie wir jemals anders über uns, den Raum, den wir einnehmen und unsere Female Rage denken konnten, bis wir unserer Wut vielleicht wirklich irgendwann Taten folgen lassen.
Was für eine Vorstellung!
Sachliteratur über Female Rage ist wichtig, wird immer mehr. Ich empfinde sie oft als harten Read, weil ich mich einfach nur aufrege. Sie legt direkt den Finger in die Wunde, bohrt in tief rein und streut noch Salz oben drauf. Super wichtig, keine Frage. Wir brauchen diese Aufklärung. Wir brauchen diese Form von Female Rage. Nur ist das für mich persönlich oft nicht zu ertragen. Weil ich mich frage: Wie ändern wir das? Und wann fangen wir endlich an?
In der Fiktion, in Fantasy, Horror, Romantasy, Cyberpunk, vermeiden wir, uns mit unserer alltäglichen Macht- und Hilflosigkeit konfrontiert zu sehen, weil die Romanheldinnen das tun, was uns oft versagt bleibt: Sie handeln. Sie rächen. Sie begehren auf – und kommen damit durch.
*Maternalisierung: Die Frau im wird im Kollektiv und als Individuum vermütterlicht, ihr biologischer Zweck sowie einzige Lebensaufgabe ist das Gebären und Aufziehen von Kindern. Andere Lebensentwürfe werden gar nicht erst gedacht. Das zwingt Frauen in dieses („traditionelle“, konservative Rollenbild, das vermeintlich ihrer natürlichen Aufgabe ist).
** Adultifizierung: Kinder und Teenagerinnen werden als „für ihr Alter reif“ geframed, als geistig und sexuell voll entwickelt deklariert und/oder propagiert, man würde ihnen ihr junges Alter gar nicht ansehen oder eine „Frau“ sei alt genug, sobald sie ihre Tage habe. Die sich mutmaßlich dahinter verbergende Pädo- bzw. Hebephilie wird erneut mit angeblicher natürlicher Ordnung gerechtfertigt, denn man(n) fühle sich zu „Frauen“ (Nein, Jürgen, das sind Kinder!) hingezogen, die möglichst lange gebärfähig seien.